Die Tracht, das Kleid der Heimat

Wie viele Kostbarkeiten birgt doch das kleine Wort "Tracht" in sich: Vergangenheit und Gegenwart, ebenso Liebe und Bekenntnis zur Heimat.

Die Entstehung der Trachten

Julie Heierli, die hervorragende Erforscherin der Schweizer Volkstrachten, hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass unsere Trachten keineswegs uralt sind. Im Wechsel der Zeit und dem Einfluss der Allerweltsmode entwickelten sich die Volkstrachten im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie entwickelten sich in Anlehnung an die Moden der höheren Stände, des städtischen Bürgertums und des ländlichen Patriziats. Die Kleidung des Adels und der Patrizier kamen in veralteter Form zu den Bürgerlichen und wurden schliesslich von den Bauern übernommen. Für die Kleider verwendeten die Bauern dauerhafte und meist selbsterzeugte Stoffe. Da Feiertagskleider nur selten gebraucht wurden und die Leute sehr sparsam waren, blieben sie dementsprechend lange im Gebrauch. Das zähe Festhalten am Alten und Gewohnten wurzelte aber nicht zuletzt auch im angeborenen Bauernstolz. Am Ende des 18. Jahrhunderts standen die Volkstrachten in der Schweiz in voller Blüte.

Untergang der Volkstrachten und der alten Bauernkultur

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Industrialisierung in der Schweiz machtvoll durch, besonders in der Spinnerei, Weberei und im Maschinenbau. Die Industrialisierung verhinderte Denkweise, Lebensverhältnisse und Kultur. Billige Fabrikgüter verdrängten die Handarbeit. Herkömmliche Möbel und Geräte in ihren originellen Formen, Bemalungen oder Verzierungen verschwanden. Bäuerinnen gewöhnten sich an, die Stoffe für die Kleider beim Krämer oder auf dem Markt zu kaufen und sich zeitgemäss zu kleiden. Einfache Kleider in modischem Schnitt breiteten sich bis in entlegene Landschaften und Alpentäler aus und verdrängten schliesslich die überlieferten Trachten bis auf wenige Überreste. Ebenso verkümmerte altes Brauchtum.

Erneuerung der Volkstrachten

Die Bedrohung der alten Kunst und Kultur in ländlichen und städtischen Gebieten durch die Zivilisation des Maschinenzeitalters und der Technik drang Ende des 19. Jahrhunderts in das Bewusstsein weiter Kreise. Nun erwachte ein starkes Interesse an der Erforschung und Erhaltung der ländlichen Kultur. 1898 erfolgte die Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde und im gleichen Jahr wurde das Schweizerische Landesmuseum in Zürich mit einem grossen Trachtenumzug eröffnet. 1500 der schönsten historischen Trachten aus allen Kantonen bewegten sich unter hellem Jubel der vielen Zuschauer durch die Strassen der Limmatstadt. Am Abend folgte ein rauschendes Fest in der Tonhalle mit Darbietungen der Gastgruppen aus der Fülle alter Volksüberlieferungen. Die Heimat sang und klang in allen Herzen wider.

1906 war das Geburtsjahr der Schweizerischen Vereinigung für Heimatschutz. Diese wollte nicht nur landschaftliche Naturschönheiten und charakteristische Gebäude schützen, sondern beabsichtigte auch die "Erhaltung und Pflege der heimischen Bräuche, Trachten, Mundarten, des Volksliedes und des Volkstheaters".

Museen sammelten alte Trachten und vielfältige Zeugnisse unserer Volkskunst. Die umfassendste Sammlung schweizerischer Trachten gelangte - unter Mitwirkung der Forscherin Julie Heierli - ins Landesmuseum.

Nach der Jahrhundertwende kam eine neue Begeisterung für das Trachtenwesen auf, die während des ersten Weltkrieges noch zunahm, ja das Trachtenkleid wurde während des Krieges sogar zum Sinnbild der Heimatliebe. Gleichzeitig bemühte man sich da und dort um eine verantwortungsbewusste Erneuerung der Volkstrachten.

In den 1920-er Jahren begann in allen Kantonen eine sorgfältige Reform des Trachtenwesens. Das Bestreben ging dahin, neue charakteristische Volkstrachten zu schaffen. Historische Kleider dienten zwar als Vorbilder, aber man passte sie bezüglich Schnitten, Machart und Stoffen den veränderten Zeiten und Gewohnheiten an. Billige Nachahmungen und unechte Festspielkostüme wurden ausgemerzt. Die Handarbeit kam zu neuen Ehren. In mühevoller Arbeit schufen Fachleute, Künstler und Historiker neue Festtags-, Sonntags- und Werktagstrachten.

Trachten des Kantons St. Gallen

So verschieden wie der geschichtliche Hintergrund der einzelnen Gebiete unseres interessanten Kantons ist, so verschieden sind unsere Trachten, Mundartdialekte und Volksbräuche.

Wie in anderen Landesteilen der Schweiz sind die Volkstrachten auch in unserem Kanton im Laufe des letzten Jahrhunderts fast ganz verschwunden. Einzig die Toggenburger Sennentracht trotzte allen Mode Strömungen und blieb ununterbrochen erhalten. Machte sich wohl bei den Toggenburger Bauern der Bauernstolz und Sennengeist bemerkbar?

In unserem Kanton war die Schaffung und Erneuerung der verschiedenen Trachten ein schwieriges Unterfangen. Als Julie Heierli die Bestände der St. Gallischen Sammlung ordnete und bearbeitete, konnte sie die Frauentrachten der verschiedenen Gegenden fast nur noch anhand von Bildnissen und dokumentarischen Aufzeichnungen beschreiben.

Mit zähem Fleiss und grosser Sachkenntnis machte sich auch Prof. Heinrich Edelmann an die Arbeit, um für jeden Kantonsteil die entsprechenden Trachten zu finden. Er hatte eine schwierige Aufgabe, konnte er doch nicht an überlieferte Exemplare anknüpfen. Einzig im Bezirk Werdenberg hatte sich eine gewisse Tradition, allerdings nur bei alten, der Mode entrückten Bäuerinnen, erhalten. Auch im oberen Toggenburg war es möglich, wenigstens an Originalstücken, die aus verstaubten Kästen zutage gefördert wurden, sowie aus mündlichen Berichten die bei den Grossmüttern noch gebräuchlichen Gewandformen festzustellen.

Aus einem Bericht von Heinrich Edelmann konnte folgendes entnommen werden:

Im Werdenberg war es Frau Dr. Senn-Rohrer (Buchs), welche das in seiner Einfachheit reizende Gwändli aus schlichtem, selbst gewobenem "Mäzi", dem die blendendweissen Hemdärmel und die Stuchenhaube sowie der bescheidene Seidenglanz von Schürze, Halstuch und Haubenband Leben verleihen, erneut zur Geltung brachte.

Im Obertoggenburg bemühte sich Frau Anna Looser (Wildhaus) darum, die mit dem überlieferten "Sennengruscht" trefflich harmonierenden Mädchentracht mit bundseidener Schürze, Göller und Brustbletz, dazu die Schlappe (Flügelhaube) wieder einzubürgern.

Das Rheintal erhielt 1925 von Hedwig Scherrer (St. Gallen und Montlingen) sein Modell, nachgebildet einem im Historischen Museum vorhandenen Modell mit leinenem, farbig gemustertem Lappenmieder, weissem Fichu und entsprechender Schürze, samt einer schwarzen Chenillehaube. Im gleichen Jahr führten festliche Anlässe auch im Fürsten- und im Sarganserland zur Wiederbelebung der Tracht.

Die Wilerinnen erregten mit einem halb städtischen Kostüm nach Biedermeierart und besonders mit der grossen schwarzen Radhaube, in deren Mitte hinten das goldbestickte "Bödeli" glänzt, Aufsehen. Diese, bespannt mit schwarzer Spitze, ist auch das Merkmal der Sarganserinnen, neben dem blauen Miederrock, aus dem Hemdärmel und -krägli sich weiss abheben.

Auf die Landwirtschaftliche Ausstellung 1927 in St. Gallen einigte man sich in der Stadt auf das städtisch zugeschnittene, fürstenländische Lappenmieder in schwarzer Damastseide (Kirchentracht) oder geeignetem Brokatstoff, weisse, sorgfältig bestickte Fichus, Ärmelvolants und die Silberhaube oder ein schwarzes Seidenhäubchen mit Stirnzacken. Im gleichen und im folgenden Jahre erhielt auch Rorschach das Festtagskleid in der Rheintalerform mit halblangem Ärmel und "Bodenseehaube".

Rapperswil erhielt mit einem caraco-ähnlichen Zeitkostüm das Festtagskleid. Im Gasterland waren zunächst das Städtchen Uznach und das Dorf Schänis auseinander zu halten.

Schliesslich wurde für das Untertoggenburg (Flawil und Uzwil) an Stelle der ausgesprochen bäuerlichen Miedertracht eine bürgerliche Form entsprechend der Mode von ungefähr 1820 geschaffen. Die typische Schlappe (Flügelhaube) bleibt ihr als Merkmal landschaftlicher Zugehörigkeit.

Im Sarganserland nahm die Trachtenbewegung anfangs der 20-er Jahre einen raschen Aufschwung. Unter dem Patronat des Heimatbundes Sarganserland wurde die Sarganserländische Trachtenvereinigung gegründet. Der erste Obmann, Ferdinand Hidbur aus Mels, wurde in seiner Arbeit von Frl. Maria Linder aus Walenstadt (Trachtenberaterin) tatkräftig unterstützt.

Der Werktagstracht (Blaudruck) wurde ein besonderes Augenmerk geschenkt. Sie wurde später noch ergänzt durch die Langärmel-Wintertracht. Diese Trachten fanden in Schnitt- und Nähkursen besonderen Anklang.